Zwischen Rum, Nolde und Störchen / 2. Tag
Von Niebüll nach Tönning
In Niebüll sind am Sonntagmorgen die Gehwege noch hochgeklappt. Nur vereinzelt huscht eine Gestalt mit einer Brötchentüte durch die Straßen und ein einsamer Radler verlässt die freundliche Stadt gen Westen. Direkt hinter dem Ortsschild wird die Landschaft noch entspannter als sie am Vortag schon war. Von oben auf dem Deich radelnd, hat man den freien Blick über endlose Weiten der Kööge. Die Köge, durch die ich in der nächsten Zeit fahren werde, wurden dem Meer Koog für Koog abgerungen. Das Land ist fruchtbar und vor dem Bau der Deiche war es manchmal auch furchtbar. Aber doch so attraktiv, dass sich der Wettstreit mit dem Meer gelohnt hat.
Am Fähranleger Schlüttsiel geht es dann endlich über den Deich und hier sollte sich der Blick auf das Meer eröffnen. Doch was ist das? Das Wasser ist weg. Zurückgezogen um an anderer Stelle die Flut zu organisieren. Scheinbar reicht das Wasser nicht für das gesamte Meer. Deshalb wechselt es alle sechs Stunden zu einem anderen Ufer.
Hintern Deich liegt die Radrouten-Verbindung Europas
Hinter dem Deich verläuft Europas längster Fernradweg, die North Sea Cycle Route (NSCR). Die Tore, die regelmäßig die zu durchqueren sind, verlangen nach einem gewissen Geschick des Durchfädelns. Verriegelung mit dem Daumen anlupfen, mit den restlichen Fingern Tor gegen den Widerstand öffnen, Tor aufhalten und mit dem Rad zwischen den Beinen durchschlupfen. Dabei den Tor öffnenden Arm nach hinten drehen und Tor so lange wie geht offen halten und wenn die Armlänge erschöpft ist, schnell den Rest des Rades durchschuppsen, bevor das Tor zuschlägt. Ganz einfach. Oder?
Die Tore sind erforderlich um die bevölkerungsstärkste Ethnie der nordfriesischen Küstenbewohner, das wollige Deichschaf, an der Rudelbildung zu hindern. Die Schafe sind auch der Grund, warum man bei Regenwetter die Wege am Deich meiden sollte, erst recht wenn, wie bei vielen modernen Rädern, keine Schutzbleche montiert sind. Berge von Schafsch… säumt den Weg, die im aufgeweichten Zustand sich überall an Rad, Taschen und Schuhen verteilt. Spätestens wenn es wärmer wird, riecht jeder wo der Radfahrer zuvor gewesen ist.
Eine Karawane von Rad- und Autofahrern strömt auf dem Fahrweg weit hinein ins Watt, der Hamburger Hallig entgegen. Bis zur Infostation des NABU, reihe ich mich in den Tross ein. Während sich alles was Räder hat weiterbewegt, biege ich die 50 Meter vom Weg ab um die Infostation des NABU zu besuchen. 50 Meter die reichen, um fast wieder alleine zu sein. Vor der Terrasse sitzt eine junge Frau, die hier ehrenamtlich ihre Freizeit verbringt. Neben dem Vögel zählen und Beobachten, ist sie hier um Interessierte über die Natur zu informieren. Nach kurzer Begrüßung setze ich mich auch vor die Terrasse auf einen Stuhl und wir beide schauen einfach nur ins Land hinein. Trotz des nicht enden wollenden Zuges an Menschen, die Richtung Hamburger Hallig unterwegs sind, bleiben wir lange alleine sitzen.
Zurück auf dem Festland besuche ich noch das Amsinck Haus. Auch hier gibt es reichlich Infos zum Watt, zu den Kögen, Land und Menschen. Während draußen der Bär tobt, habe ich auch diese Ausstellung für mich alleine.
Vor dem Kaffee kommt der Schaltzug
In Husum wartet eine Freundin mit einer Tasse Kaffee auf mich. Der Gedanke an das braune Getränk und die dazu gereichten Leckereien, beschleunigen das Fahrrad auf wundersame Weise. Bis, kurz vor Erreichen der bunten Stadt am Meer, beim Betätigen des Schalthebels eine Fehlermeldung an das Gehirn gesendet wird. Während sich der Schalthebel mit einem Ruck fast widerstandlos weiterbewegt. Bewegt sich die Kette ganz von alleine von einem Ritzel auf das nächste. Immer einen Gang schwerer. Verdammte …, so ein …. und viele andere böse Wörter verlassen die Mundhöhle. Der Schaltzug ist gerissen. Ok, ich nehme es wie es kommt. Bei der bevorstehenden Tasse Kaffee wird mir schon etwas einfallen.
Bei Martina gibt es dann aber erst mal den ersehnten Kaffee, mit einer extra Portion Eis. Wir beratschlagen uns nach Möglichkeiten, am Sonntag in Husum einen Schaltzug zu kaufen. Im Sommer kann man in vielen Städten Schleswig-Holstein zwar einkaufen, doch vorwiegend machen nur die größeren Geschäfte auf. Dort wo der Inhaber selbst jeden Tag an der Theke steht, ist meist geschlossen. So wie bei den meisten Radläden. Viel zu kurz ist wieder mal die Zeit, um sich, über all das was im letzten Jahr geschehen ist, mal wieder richtig auszutauschen. So verabschieden wir uns auch, ohne eine Lösung für mein Problem gefunden zu haben. Wenn nichts hilft, soll es die Bahn richten und die Tour muss in Husum enden. Das wäre sehr schade.
Die Radstation am Bahnhof rettet meine Radtour
Auf dem Weg zum Bahnhof, reift der Gedanke doch noch bis Tönning zu fahren. Wenn ich das Schaltwerk an den Einstellschrauben etwas verstelle, so dass die Kette auf einem etwas größeren Ritzel liegt, dann dürften die letzten 25 Kilometer nicht besonders angenehm, aber auch nicht zu anstrengend werden. Heinz Helfgen hatte bei seiner Weltumradlung in der 50ern, auch nur ein Fahrrad mit einem Gang. Doch so weit wird es nicht kommen. Am Bahnhof gibt es doch die Radstation, meinen Ex-Arbeitgeber. Es ist tatsächlich geöffnet und einen Schaltzug samt Werkzeug zum Reparieren bekomme ich von der freundlichen Mitarbeiterin auch.
Doch kaum macht sich die Freude über glückliche Lösung breit, steht auch schon die nächste Herausforderung an. Der abgerissene Nippel des Zuges, hat sich in der Mechanik verklemmt und blockiert die Schaltung. Mehr als drei Gänge lassen sich nicht schalten und das Loch zum Einfädeln des neuen Zuges, bleibt somit in unerreichbaren Tiefen verborgen. Immer wieder versuche ich an das entscheidende Loch heran zu kommen. Mit kleinsten Schraubenziehern, teilweise zerlegen, drei Gänge rauf, drei Gänge runter schalten. Es regt sich nichts. Mein Kopf spielt schon mal en Gedanken der Zugfahrt durch. Durch die Reparatur ist der geplante Zug schon weg und bis zum Nächsten ist noch viel Zeit. Zeit um es weiter zu versuchen. Irgendwann, aus heiterem Himmel lässt sich der plötzlich Hebel weiter bewegen, Gang für Gang lässt er sich schalten bis das ersehnte Loch in Sicht kommt und damit auch der abgerissene Nippel. Jetzt ist es schnell geschehen. Innerhalb von zehn Minuten verabschieden sich Rad und Fahrer Richtung Tönning.
Alles wieder gut
Wie schön ist es doch, wenn das Rad funktioniert. Ich rolle locker am Rande der Halbinsel Eiderstedt, durch kleine und kleinste Dörfer wie Witzwort und Oldenswort. Nur Kotzenbüll lasse ich links liegen. Nein nicht wegen seines Namens, es liegt einfach nicht auf der Strecke. Mit Wind von der Seite und hinten, ist die Jugendherberge in Tönning, dann auch bald erreicht. Das Bett+Bike Siegel zeichnet die Jugendherberge als besonders fahrradfreundlich aus. Rita und Jochen Jessen, die beiden Herbergseltern, sind es auch.
Nachdem das Zimmer mit Dusche in Beschlag genommen ist, verbreitet sich auch wieder meine übliche Unordnung. Wie gewohnt, schafft es der Inhalt meiner Taschen, sich in kürzester Zeit durch das Zimmer zu verteilen. Sei`s drum, morgen krieg ich euch alle wieder und ihr werdet in den Sack gestopft.
Mittlerweile ist es fast windstill geworden. Die Boote im Hafen, spiegeln sich auf dem Wasser und die Sonne taucht die alten Backsteinhäuser in ein warmes Licht. Auch in Tönning hat der Hafen seine alte Bedeutung verloren. Zum wohl der Gäste, deren Nasen anstelle von Fisch und Schweröl, frische Luft atmen können. Durch die schmalen Gassen, erreiche ich den Marktplatz. Umringt von den alten Backsteingiebeln, in der warmen Abendsonne sitzend, würde die Pizza jetzt noch besser schmecken. Die Giebel sind da, nur die Wärme lässt leider noch auf sich warten. So lasse ich es mir halt drinnen schmecken.