Deutschland der Länge nach / Gifhorn – Bad Harzburg
Der heutige Tag erfreut mit ordentlichem Wind, nur bläst er in die falsche Richtung. Immer mal wieder greife ich zum Unterlenker um den Wind ein bisschen seinen Spaß zu verderben. Doch selbst in dieser windschnittigen Position, fällt die Anzeige auf dem Tacho oft deutlich unter die 20 km/h. In einem der vielen Büttels auf dem Weg, so Enden hier fast alle Ortsnamen, kommt mir dann auch noch eine Baustelle mit Vollsperrung in die Quere. Nach dem zweiten Hinsehen ist es gar nicht mehr so schlimm, für Radfahrer gibt es einen kleinen Weg, vorbei an der Baustelle. Sechs Bauarbeiter schauen sachkundig auf den frischen Asphalt und einer hält verantwortungsvoll den Besen.
Von hier aus macht die Sperrung richtig Spaß. Autofrei rolle ich entlang von Kornfeldern über die schmale Straße. Die Strommasten konkurrieren mit der Idylle der Windmühle, die bei diesem Wind ordentlich mahlen könnte. Nach einem Abzweig kommt mir die Sache langsam spanisch vor. Hätte ich nicht schon längst wieder eines der Büttel, erreichen sollen? Büttel bedeutet so viel wie Hof, Siedlung, Ort. Eine Endung wie sie am häufigsten in der Region um Braunschweig zu finden ist.
Schlau ist wer die Karte um Rat befragt, noch schlauer ist, wer es macht bevor er sich verfährt. Also bitte einmal rumdrehen und wieder zurück. Zumindest kommt jetzt der Wind von hinten und schiebt mich ordentlich an und bald schon erreiche ich auch wieder die Baustelle. Sechs Bauarbeiter schauen sachkundig auf den frischen Asphalt und einer hält verantwortungsvoll den Besen.
Seit ich Gifhorn verlassen habe, hat sich auch die Landschaft stark verändert. Bisher sah es überwiegend sehr ländlich aus. Zwischen den Wäldern und der Heide, tummelten sich immer mal wieder einzelne Höfe oder kleine Dörfer. Nie spektakulär, aber meist entspannt und sehr ruhig. Jetzt dominiert eine eher ausgeräumte, weite Landschaft das Bild. Auch dringt fast ständig ein Rauschen von fernen und weniger fernen Straßen in die Ohren.
Braunschweig und Lederhosen
Auf dem Mittellandkanal begegnen sich zwei Frachtschiffe verstrubeln kurz die Wasseroberfläche und ziehen dann langsam dem Horizont entgegen. Ich komme Braunschweig immer näher und langsam verdichtet sich die Bebauung. Auch der Verkehr nimmt zu. Noch nie war ich in Braunschweig. Ich hätte auch nicht gewusst, was mich nach Braunschweig ziehen sollte.
Von vielen Orten auf dieser Welt, hat man eine gewisse Vorstellung was einem dort erwarten könnte. Ein Vorstellung vom Charakter, Flair oder auch nicht Flair. Selbst für die Meisten die noch nie in Dresden waren, erzeugt der Name Bilder im Kopf. Aber Braunschweig? Diese Region Deutschlands ist immer an mir vorbei gegangen. Nun fahre ich in dieses unbekannte Wesen mit dem Fahrrad ein. Bis zur Stadtmitte unterscheidet Braunschweig nichts von anderen Städten dieser Größe. Wohnsiedlungen und Gewerbebauten wechseln sich ab. Die Straßen sind für den Autoverkehr optimiert und dank der Ausschilderung für den Autofahrer finde ich auch schnell in die Innenstadt.
Trotz der Auswirkungen von Adolfs Launen in der Zeit bis 1945, und dem Betonbauwahn in den 70ern, der auch ein wenig Veränderung in das Stadtbild gebracht hat, steht hier vom kleinen Fachwerkhaus, bis zum imposanten Schloss, dennoch einiges an sehenswerten alten Gemäuern im Zentrum, dieser mir so unbekannten Stadt. Nach ausgiebiger Besichtigung zieht es mich wieder aus der Stadt heraus.
Wie komme ich hier nur wieder raus?
Doch so leicht will mich Braunschweig nicht gehen lassen. Diesmal möchte ich der Beschilderung für Radfahrer folgen, möchte dem Weser-Harz-Heide-Radweg nach Wolfenbüttel folgen. Doch wo ist er denn. Kein Schild, kein noch so kleiner Hinweis will mir den Weg zeigen.
Ich muss wohl einen sehr suchenden Eindruck machen. An einer Ampel greift mich ein anderer Radfahrer auf und bietet mir seine Hilfe an. Stämmige Waden füllen die Lederhose des Radlers, zusammen mit dem rot karierten Hemd ist der bayrische Eindruck perfekt. Nur auf den Alpenblick, auf den muss ich wohl noch einige Tage warten.
Nachdem ich ihm erklärt habe wohin ich will, fährt er mir auf seinem alten Herkules Dreigangrad voraus. Wie man mit so einem Rad so schnell sein kann ist mir ein Rätsel. Ohne aus der Puste zu kommen erzählt der Radler im Alpendress von seiner Alpenüberquerung mit dem MTB und ehe ich es richtig erfassen kann, ist er mit mir auf Schleichwegen durch den Bürgerpark, fast schon aus Braunschweig heraus gefahren. „Hier musst du links abbiegen und dann folgst du der Oker“ gibt er mir noch mit auf den Weg, bevor er sich mit einem guten Gruß genauso schnell verabschiedet, wie wir durch den Park gefegt sind. Danke und Tschüss rufe ich noch hinter der schnell kleiner werdenden Gestalt her. Die Oker liegt tief unten im Bett und kommt mir langsam fließend entgegen. Ein kurzes Stück weit wird sie mich begleiten.
Starrer Hund und Alte Wege
Vor lauter Angst vor Fahrradfahrern, bleibt der Hund, wie zu einem Denkmal erstarrt, mitten auf dem Weg sitzen und rührt sich nicht vom Fleck. Allen Überredungskünsten von Frauchen zu trotz, bleibt der Wollknäuel regungslos auf seinem Fleck sitzen und starrt auf die Räder die auf ihn zurollen, bis sie vor ihm stehen bleiben müssen.
Frauchen entschuldigt sich für ihr Verkehrshindernis. „Als Hundekind hat er mal einen Radfahrer übersehen und wurde angefahren. Es ist beiden nichts Ernsthaftes passiert“, erzählt Frauchen Schulter zuckend, „aber seither traut er sich keinen Schritt mehr weiter, wenn er einen Radfahrer sieht“. Egal wo er sich gerade befindet, setzt er sich hin und wartet bis die Gefahr vorüber ist.“
Willst du nicht nass werden, gehe Kuchen essen
Der „Alter Weg“, so heißt der Weg wirklich, ist auch wieder so ein alter Handelsweg. Einst verband er den Norden über den Harz mit Leipzig, mich verbindet er mit Wolfenbüttel. Über die freien Kornfelder, wirken die schwarzen Wolken bedrohlich und schrecklich nass. Wie ein großes Dach aus triefenden Wolldecken, schieben sie sich hinter dem Horizont, dem schutzlosen Radler entgegen.
Nur ein kurzer Stopp um das Schauspiel mit dem Fotoapparat zu dokumentieren und dann aber flott in die Pedale treten. Ich mag triefende Wolldecken nicht. Schnurstracks zieht es mich in die Altstadt von Wolfenbüttel um in einem Café mein Haupt und auch den Rest des Radlers, vor dem Himmelswasser in Sicherheit zu bringen. Der Kaffee wärmt die Seele und der Kuchen füllt die Kohlehydratspeicher wieder auf, während draußen die dicken Tropfen auch noch den letzten Fußgänger verjagen.
Der Regen kann mit seiner Arbeit voll zufrieden sein. Mit den letzten Tropfen stehe ich wieder vor der Tür des Cafés und bin fast der Einzige der sich im Freien aufhält. Die vorher so quirlige Fußgängerzone hat er fast leergefegt.
Der Harz kommt näher
Die Veränderung an den Häusern wird mir erst nach und nach bewusst. Neben den weit verbreiteten, bunten Fachwerkfassaden, stehen reihenweise Häuser mit grauen, schieferverkleideten Fronten in Wolfenbüttels Altstadt. Ihre roten Ziegeldächer lassen Sie aussehen wie übergroße Hutzelzwerge, die nach ihrer Arbeit in den Bergwerken, ihren Helm gegen die Mützen getauscht haben.
Beim Verlassen der Innenstadt bekomme ich es auch nochmal schriftliche, was sich hier verändert. Harztorplatz und Harzstraße stehen auf den Schildern. Jetzt liegt er direkt vor mir der Harz, der vor wenigen Tagen noch meinen geistigen Landkartenteppich am Ausrollen gehindert hat.
Doch bevor der Harz sicht- und greifbar wird, hindern mich wieder mal die Tücken der Ausschilderung daran, die Stadt zu verlassen. Auf dem Weg raus aus der Stadt, führt das Schild des Weser-Harz-Heide Radwegs an einer Brücke vorbei, auf die andere Straßenseite, unter der Brücke durch und wieder zum Schild an der Brücke vorbei.
Obendrüber über die Straße und dann wieder untendurch, obendrüber und wieder untendurch, obendrüber und … Wolfenbüttel mag seine Radfahrer nicht loslassen und schickt sie hier immer im Kreis umher. Da ich den Harz heute noch erreichen will, wiedersetze ich mich den Wegweisern und verlasse den Radweg mit direktem Kurs auf Bad Harzburg.
Das erste Mal ist der Harz zu sehen
Bei Werla-Burgdorf verlässt mich der Weser-Harz-Heide-Radweg. Den Fernradweg zieht es westlich am Harz entlang, mich ab durch die Mitte. Irgendwann ist es dann soweit, hinter einem kleinen Waldstück ergibt sich plötzlich der erste Blick auf den Harz. Als wollte er mich nicht zu sehr zurückschrecken mit seinen Steigungen, verbirgt er sich zu größten Teil hinter Nebel und Wolken.
Ich halte das Rad an und schaue auf das was da Morgen auf mich zukommt. Bis auf kurze Steigungen abgesehen, war das Land bisher doch recht flach. Mein Campingplatz bei Bad Harzburg wird auf ca. 150 Meter Höhe liegen und wird dann mein bisher höchster Punkt der Reise sein.
Und Morgen? Morgen will ich hoch in den Nationalpark Harz nach Torfhaus. Das liegt über 620 Höhenmeter weiter oberhalb. Die Anstrengung der letzten Tage und der Wind von heute, haben schon ihre Spuren hinterlassen. Eigentlich, so signalisieren mir meine Beine und der Po, reicht es doch. Wir könnten doch den nächsten Bahnhof ansteuern und… Wie? Was? Bahnhof? Nix da, wir fahren jetzt zum Campingplatz und morgen geht’s hoch in den Nationalpark. Basta. Ich habe gesprochen. Eigenwilligen Körperteilen sollte der Besitzer nicht zu viel Raum geben. Sie werden sonst leicht faul.
Der Wind macht mir zu schaffen
Der Wind wird immer heftiger. Auf freier Strecke zeigt der Tacho zeitweise nur noch knapp über zehn Km/h an. So langsam wird die Zeit knapp. Viele Campingplätze schließen die Rezeption bis spätestens acht Uhr. In Lochum ist wieder mal Ende der Orientierung. Und wieder mal erahnt ein Passant meine missliche Lage und spricht mich an.
Umständlich und über tausend Ecken versucht mir die hilfsbereite Frau den richtigen Weg zu erklären. Möchte dann sogar noch ihr Auto holen um mich auf den richtigen Weg zu bringen. Es kostet einige Mühe sie von dem, durchaus liebenswerten, Angebot abzubringen. Ich will doch einfach nur die richtige Richtung wissen.
Die Summe der Kreuzungen und Orte die sie mir nennt, würde durchaus reichen einen Weg bis nach Rom zu beschreiben. Immer wieder holt sie mit neuen Erklärungen aus, wiederruft einen Teil davon, ersetzt ihn durch einen anderen, um den Ersetzten durch den wiederholten, oder war es anders rum, zu tauschen. Nach ihrer Erklärung schaffe ich es zwei Kreuzungen weiter um dann an einer Gabelung nicht mehr weiter zu wissen. Nur zweimal links hat sie doch gesagt, dann sind sie auf der Straße nach, wohin nochmal? Ich bin mehr verwirrt als informiert und merke nur noch das sie die Gabelung hier unterschlagen hat.
Zum Glück stehen keine 30 Meter nach rechts zwei Männer, die einen ortskundigen Eindruck machen. Sie erklären mir den kürzesten Weg durch die Felder unter der Bahn durch, hier links dort rechts und eigentlich kann ich von hier das Ziel schon sehen. Stimmt, doch sehen und ankommen sind zwei verschiedene Stiefel wie sich schnell herausstellen wird.
Es wird holperig auf dem Europaradradweg
Nach kurzer Zeit wechselt die Straße auf einen geschotterten Weg und unter der Bahn durch das stimmt auch. Ab hier ist es dann der Europaradradweg R1. Wenn sich Europa auf genau solchen holperigen Wegen zusammen bewegt, dann wird es bis zu einer richtigen Gemeinschaft noch etwas dauern. Der Weg gleicht stellenweise eher einer MTB-Route. Noch dazu führt sie erst an meinem Ziel vorbei und dazu noch ziemlich bergauf.
Der Tacho zeigt mittlerweile eine dreistellige Zahl an Tageskilometern. Fast jeder einzelne dieser Kilometer führte gegen den Wind und jetzt wird die Steigung immer fieser. Völlig erschöpft erreiche ich viertel nach acht den Campingplatz. Ist noch jemand da? Ja, zum Glück kann man hier auch noch später einchecken.
Schnell ist das Zelt aufgebaut. Dann geht es flux unter die Dusche. Ein paar der Lebensgeister lassen sich unter dem heißen Wasser wieder reaktiveren. Einige weitere kommen dann noch mit dem Abendessen wieder zurück. In der Hoffnung, dass sich noch einige weitere Geister durch den Schlaf dazu gesellen, rolle ich mich in den Schlafsack und schon sind die Augen fest verschlossen.